Irgendwas läuft schief in unserer Demokratie: Nach unserer Einschätzung wurden für kein anderes Thema so viele Gesetze erlassen, die postwendend von Gerichten wieder kassiert wurden. Die Rede ist von der anlassunabhängigen Speicherung digitaler Spuren im Internet, besser bekannt als Vorratsdatenspeicherung. Es muss ein wichtiges Thema sein, wenn man dennoch in allen europäischen Staaten und in der EU wieder und wieder Anläufe dazu nimmt. So auch dieser Tage unter der deutschen Ratspräsidentschaft. Dazu später mehr.
Heute hat der Europäische Gerichtshof zum bereits dritten mal geurteilt, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Zuvor waren bereits in 2014 und 2016 ähnliche Urteile gefallen. Im aktuellen Urteil hat der EuGH die vorherigen Urteile bestätigt und betont, dass eine generelle anlassunabhängige Speicherung nicht zulässig ist. Ausnahmen hiervon, müssen immer auf einen konkreten Anlass bezogen und die Datenspeicherung auf das notwendigste Maß beschränkt sein. Nun steht zu befürchten, dass die vom EuGH ausgeführten Ausnahmen die Debatte über eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung erneut befeuern.
Aber treten wir einen Schritt zurück. Worum geht es bei der Vorratsdatenspeicherung? Es geht um Verbrechensbekämpfung: Sowohl um die Aufklärung von Verbrechen, die bereits stattgefunden haben, als auch um das Vereiteln geplanter Straftaten. Beides dient dem Ziel, die Bevölkerung zu schützen und ist somit zweifelsfrei Aufgabe staatlicher Gewalt. Dieser Bevölkerungsschutz trifft im Digitalen auf "neue" Herausforderungen.
So ist es heute (auch Verbrechern) möglich zu kommunizieren ohne dass ein staatliches Organ das Gespräch abhören kann, etwa durch Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, wie sie in Messengern (WhatsApp, Threema, …) eingebaut ist. Das war früher anders: Ein "normales" Telefongespräch (Festnetz und Mobilfunk) konnte abgehört werden. Das wird auch heute (rechtskonform) getan. Mit richterlichem Beschluss. Im Einzelfall. Nach einem Anfangsverdacht.
Das Problem, das Strafverfolger damit haben, ist, dass sie nach einer Straftat keine Beweise und vor einer geplanten Straftag keine Indizien für eine geplante Straftag haben – und damit zuweilen ihre Aufgabe nicht wahrnehmen können. Die Folgerung: Sie brauchen früher, schneller und mehr Daten. Gesetze zur anlasslosen Speicherung von Daten sollen deren Umfang und mögliche Verwendungszwecke festlegen.
Bisherige Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung wurden von Gerichten z.T. wegen "handwerklicher Unzulänglichkeiten" (schlimm genug!), aber eben auch wegen grundsätzlicher Bedenken für ungültig erklärt. Die wichtigsten Gründe aus unserer Sicht:
- Die anlasslose Datenerfassung beschränkt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung unbescholtener Bürger. Das ist in Ordnung (!), muss aber gegen andere Grundrechte abgewogen werden!
- Meist kann der Personenkreis nicht eingegrenzt werden, da ganze digitale Ökosysteme überwacht werden sollen. Dies entspricht einem (zu?) großen Beifang "im Schleppnetz".
- Es ist z.T. nicht vorhersagbar, welchen Informationsgehalt die Daten haben die bei einer solchen Speicherung erfasst würden. Menschen tun unterschiedliche Dinge, auch digital. Daher kann man aus ein und derselben Datenart völlig verschiedene Schlüsse ziehen. Im Kontext betrachtet, müssten diese Situationen aber ethisch und rechtlich unterschiedlich bewertet werden.
- Die Menge der "auf Vorrat" erhobenen Daten ist häufig so groß, dass man maschinelles Lernen (KI , keine Nachvollziehbarkeit!) und manuelle Nachbearbeitung (Sichtung irrelevanter privater Informationen!) benötigt.
- Die Speicherung soll in der Regel nicht vom Staat selbst, sondern von marktwirtschaftlichen Unternehmen durchgeführt werden. Das kostet Geld, was diese Unternehmen auf den Produktpreis umlegen. Aber auch der Schutz dieser Daten kostet Geld, und hier weniger Geld auszugeben erhöht deren Marge.
- Erhobene Daten bieten verlockende weitere Nutzungsmöglichkeiten. Erfahrungsgemäß erfolgt mit der Zeit eine Zweckerweiterung. So geschieht dies aktuell bei den Corona-Kontaktlisten der Gastronomie, die eigentlich nur fürs Gesundheitsamt sind, aber (nicht nur in Bayern!) zur Aufklärung von Verbrechen herangezogen werden.
- Die Sicherheit von Daten ist nicht absolut bzw. hat eine Halbwertszeit. Dies belegen die viele Datendiebstähle und Datenpannen der letzten beiden Jahre eindrucksvoll: Von Unternehmen über städtische Behörden bis zu Gerichten. Z.T. betrafen solche Pannen die gesamte Bevölkerung eines Landes.
Nun ist es wieder einmal soweit: Nachdem es in Deutschland gerade wieder auf der Tagesordnung war ist damit zu rechnen, dass sich nun auch die Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten erneut auf einen gemeinsamen Vorstoß verständigen werden. Noch einmal sei gesagt: Ja, Strafverfolgung muss möglich sein. Unserer Ansicht nach muss aber zuerst eine gesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgen. Denn wenn einmal Gesetze und Systeme eingerichtet sind, bekommt man sie erfahrungsgemäß nicht mehr los. Daher unterstützt Selbstbestimmt.Digital den NGO-Brief von Digitalcourage an die Verantwortlichen in der EU – wie auch viele weitere Bürgerrechtsorganisationen.
Denn unser Verhalten im Internet zu erfassen ermöglicht das Erstellen aussagekräftiger Profile (was ja das Ziel ist, wenn man Straftaten verhindern will). Aber machen wir bitte einen Vergleich mit der realen Welt: Wir könnten bestimmt auch verhindern, dass jemand verprügelt wird, wenn an jeder Straßenecke (oder an jeder Hausecke, oder in jedem Zimmer) ein Polizist stünde. Aber würden wir uns DAS gefallen lassen, "nur" weil man damit eine Straftat verhindern kann? Und würden wir es akzeptieren, wenn alle Beobachtungen der Polizisten (unabhängig von Straftaten!) an zentraler Stelle gesammelt würden?
Wir dürfen auch nicht vergessen (und gerade wir Deutschen sollten wissen, auch wenn nun 30 Jahre Gras darüber gewachsen ist), dass "der Staat" oder "die Polizei" auch nur aus Menschen besteht. Menschen, die Fehler machen oder im Einzelfall bzgl. ihrer Integrität, Moral und in ihrem Verhalten nicht dem Idealbild entsprechen, das wir uns leichtfertig ausmalen könnten. Und Daten sind Macht. Wir sollten uns genau überlegen, wem wir wie viel Macht in die Hand geben und wo wir lieber die verbleibende Unsicherheit als Bürger und als Gesellschaft tragen oder aushalten wollen.
Randbemerkungen zum Kontext: In den letzten Jahren wurden etliche (Polizei-)Gesetze erlassen, die aufwändig erstrittene Freiheitsrechte drastisch beschneiden. Derzeit gibt es viele technische Möglichkeiten, die vor dem Hintergrund der Überwachung zumindest problematisch sind. Wir haben vor, hier demnächst im Rahmen der bundesweiten Aktionstage "Netzpolitik und Demokratie" zum Thema Gesichtserkennung aktiv zu werden.
Ergänzungen (Presseartikel) – gern kannst du uns weitere Links schicken: